31 Kratzungen | 31 Scratchings

(2005 – 2008)




Book 31 Scratchings

Bildband | Book

Hardcover | 112 pages | Size: 29 x 23 cm | Edition: 1000 copies
Wieser Verlag, Austria, 2008 | ISBN: 978-3-85129-803-1

Book design by Doris Pesendorfer
Languages: German, English, Italian, Slovenian
Texts by Nina Schedlmayer, Ulrich Tragatschnig


Publication: Previewed
Publication: Le Monde diplomatique
Publication: Coming out
Publication: Collezioni Uomo
Publication: Cankarjev dom

FOTOGRAFISCHE ARCHÄOLOGIEN
Nina Schedlmayer

Marko Lipuš geht mit seinen Bildern recht brutal um. Er zerschneidet, bricht, zerkratzt die Negative der von ihm fotografierten Schriftsteller und Schriftstellerinnen, bearbeitet sie mit Nadeln, Messern und Schmirgelpapier. In der vorliegenden Publikation stellt er ihnen auch noch, Brutalität Nummer zwei, jeweils bloß eine einzige Seite aus einem ihrer Texte gegenüber, nicht mehr als ein Ausschnitt, ein Ausriss, eine Momentaufnahme.

„Der Liebhaber der Fotografie“, schreibt Peter Wollen, „lässt sich sowohl vom Augenblick als auch von der Vergangenheit faszinieren. Der im Bild eingefangene Moment ist von einer annähernd gegen Null gehenden Dauer und hat seinen Ort in einem auf ewig fliehenden ‚Damals‘. Zugleich kennt auch das ‚Jetzt‘ des Betrachters, der Moment, in dem er das Bild anschaut, keine festgelegte Dauer. Er kann gedehnt werden, solange die Faszination anhält, und endlos wiederholt werden, solange die Neugier wiederkehrt.“ Dies, so Wollen weiter, sei der essenzielle Unterschied zwischen Fotografie und Film. Bilder geben uns, ebenso wie Literatur, die Zeit, in der wir uns ihr widmen, nicht vor. Im Unterschied zur Malerei jedoch ist die Fotografie immer ein Ausschnitt einer Zeitlinie, ein Ausschnitt aus der Welt, wie sie uns umgibt. Wenn nun Lipuš bloß eine einzige Seite aus dem Werk eines Autors wählt, um sie seinem Bild gegenüberzustellen, dann parallelisiert er damit den fotografischen Vorgang des Fragmentierens. Gleichzeitig wird der Betrachter/Leser dazu angehalten, den Text anders wahrzunehmen – das Fragment erlebt einen Bedeutungszuwachs, verbindet sich mit den anderen Fragmenten im Buch. Und es verführt dazu, Verbindungen zu konstruieren zwischen Text und Bild, den Raum zwischen diesen beiden Kunstformen zu füllen.

Lipuš beschränkt sich aber nicht auf die Gegenüberstellung von Text und Fotografie, bei dem er im Wesentlichen ein – in diesem Fall recht einfaches – Montageprinzip einsetzt. Montagen sind auch seine bearbeiteten Fotografien: Seine zuerst zerteilten und dann wieder zusammengesetzten Negative lassen bewusst Lücken und Brüche frei, die entweder als Verletzungen gesehen werden können, oder umgekehrt als Inseln, die zueinander zu schwimmen scheinen, an eine Kontinentalverschiebung denken lassen. Dennoch haben Lipuš’ Arbeiten mit der Montage im klassischen Sinn – Benjamin H. D. Buchloh schreibt ihr etwa die „Aneignung und Entleerung von Bedeutung, die Fragmentierung und dialektische Gegenüberstellung einzelner Bruchstücke“ sowie die „systematische Trennung von Signifikant und Signifikat“ zu – wenig gemein. Konstruiert sich diese für gewöhnlich aus disparaten Elementen, um neue Konstellationen zu schaffen, so ist hier das Gegenteil der Fall: Nur ein einziges Bild verwendet Lipuš. Der Vorgang des Zerschneidens hat etwas Gewalttätiges, der des Rekonstruierens wiederum etwas Versöhnliches; so erscheinen die Arbeiten wie Vexierbilder. Man fühlt sich an Susan Sontags Klassiker („On Photography“, dt. „Über Fotografie“) erinnert, wo sie unter anderem schreibt: „Jede Fotografie ist eine Art Memento mori.

Fotografieren bedeutet teilnehmen an der Sterblichkeit, Verletzlichkeit und Wandelbarkeit anderer Menschen (oder Dinge). Eben dadurch, dass sie diesen einen Moment herausgreifen und erstarren lassen, bezeugen alle Fotografien das unerbittliche Fließen der Zeit.“
Bemerkenswert sind jedoch auch, neben der Montage, die anderen Maßnahmen, mit denen Lipuš seine Fotonegative bearbeitet; er zerkratzt sie, ritzt winzige Zeichen, Zeichnungen hinein. Die Techniken sind uralte, stellenweise erinnern die Kratzer an die Schraffuren einer Radierung, die zarten Zeichnungen an frühe Sgraffito-Kunst, wie man sie an Hausmauern und Denkmälern vor den Zeiten der Tags und Stencils heutiger Graffiti-Sprayer fand. Obwohl die Fotografien, die Lipuš selbst macht, relativ aktuell sind, wirken sie daher, als wären sie viel älter; eine distanzierende Patina scheint sich über sie gelegt zu haben. Zu unterschiedlichen Graden entziehen sie sich dem Betrachter, auch durch die schwarzen Fehlstellen in ihren Körpern: So fehlt Friederike Mayröcker gleich eine ganze Gesichtshälfte, Peter Turrini muss mit einem einzigen Auge auskommen, Feridun Zaimoglu wurde der Mund verboten, während Markus Werner Schulter, ein Teil des Halses und des Kiefers entfernt wurden. Walter Kappachers Gesicht dagegen zerfällt überhaupt in drei Teile, während Marica Bodrožić und Gerhild Steinbuch halbwegs vollständig bleiben dürfen. Je zerkratzter ein Negativ ist, desto weiter ziehen sich die Porträtierten in die Tiefe und Undurchdringlichkeit des Bildes zurück: Drago Jančar etwa scheint teilweise von einem Schleier verborgen zu sein, Kathrin Röggla hinter Schlieren versteckt. Doch so fern sie uns zu sein scheinen, so nahe kommen sie uns doch wieder: Die fixierenden Augen des Walter Kappacher, das Stirnrunzeln des Robert Menasse, der leicht gelangweilte Blick von Gerhild Steinbuch holen sie wieder zurück, ins Hier und Jetzt. Ein wesentliches Moment der Fotografie – die Dichotomie zwischen Präsenz und Abwesenheit – wird damit unterstrichen. Ein wenig lassen die „Kratzungen“ und „Verfotografierungen“ an archäologische Fundstücke denken. Nur gräbt Lipuš keine Gegenstände aus, sondern versucht einer Person auf die Schliche zu kommen, Schicht für Schicht ihren Charakter zu entdecken.
Lipuš’ Umgang mit seinen Fotomodellen ist unterschiedlich: manchmal liebevoll, manchmal ironisch, manchmal beides. Robert Menasse etwa bekommt eine Strubbelfrisur – oder sind es vielleicht doch geniale Gedanken-Emanationen? – verpasst; außerdem stecken in seiner Sakkotasche Messer, Dreizack und eine Blume. Der jungen Steinbuch wird ein kleines Blümchen auf ihren Hut gesetzt, Zaimoglu dafür ein ganzer Strauß vor seine Brust gestellt. Markus Werner wird ein Ersatz für seine abgeschnittene Schulter gegönnt, rauchen darf er auch. Maja Haderlaps Haare scheinen sich verlängert zu haben, vielleicht ist ihr aber auch ein Heiligenschein gewachsen, wer weiß? Aus Peter Handkes Schulter wächst ein Herzchen empor. Im Bild von Gert Jonke tummeln sich ein winziger Zug, ein Rad, eine Figur.

Es sind Zeichen, die wie auf Suchbildern so klein sind, dass man sie sprichwörtlich mit der Lupe suchen muss. Nur dem ganz aufmerksamen Betrachter entgehen sie nicht, diese Icons, die sich in der Textur des Bildes verstecken, wo sie doch so offensichtlich da sind. Zu den häufig recht ernsthaft dreinblickenden Autoren bilden sie Gegenpole, winzige Kommentare, die augenzwinkernd von der Leichtigkeit des Lebens, Schreibens und Kunstmachens künden.

PHOTOGRAPHICAL ARCHAEOLOGIES
Nina Schedlmayer

Marko Lipuš is quite merciless with his pictures. He cuts, breaks and scratches the negatives of the photos he has taken of writers with needles, knives and sand-paper. On top of all that, in the present work he confronts them with only one page taken from one of their texts, no more than an extract, a snippet, a snapshot – which is another act of mercilessness.

Peter Wollen writes: “The lover of photography is fascinated not only by the moment, but also by the past. The moment captured in a picture lasts an almost negligible amount of time and is located in the eternally fleeting ‘then’. At the same time also the viewer’s ‘now’ – the moment in which he looks at the picture – has no defined length. It can be stretched as long as it holds the viewer’s fascination, and be endlessly repeated as long as curiosity returns.” This, continues Wollen, is the essential difference between photography and film. Pictures, like literature, do not dictate us the length of time we dedicate to them. In contrast to painting, photography always captures an extract of a time line, an extract of the world as it surrounds us. If Lipuš chooses only one single page of an author’s work to place it opposite his photograph, he then parallelises the photographical act of fragmentation. At the same time, the viewer/reader is asked to perceive the text differently – the fragment gains more meaning, it joins the other fragments in the book. Thus, the viewer/reader is tempted to make connections between the text and the picture, to fill the space between the two art forms.

Lipuš does not limit himself to comparing text with photography by means of basically using a montage – in this case quite a simple one. His scratched photographs are also montages: he first separates the negatives, then joins them together again, consciously leaving gaps and breaks, which can either be considered wounds or, on the contrary, islands, which seem to swim toward each other, reminding us of a continental drift. However, Lipuš’s work has little to do with montage in the classical sense. Benjamin H.D. Buchloh ascribes to it the “acquisition and depletion of meaning, the fragmentation and dialectic comparison of individual snapshots” as well as the “systematic division of the signifier and the signified”. Usually created from separate elements to make new configurations, here the opposite is the case: Lipuš uses only one photograph. The act of cutting is somewhat violent. The reconstruction, on the other hand, seems like a reconciliation; his works thus look like picture puzzles. They are reminiscent of Susan Sontag’s classic book (“On Photography”), where she wrote amongst other things: “All photographs are memento mori. To take a photograph is to participate in another person’s (or thing’s) mortality, vulnerability, mutability. Precisely by slicing out this moment and freezing it, all photographs testify to time’s relentless melt.”

It is also worth noting how Lipuš works on his negatives aside from the montage: he scratches them, carves tiny symbols and drawings into them. He uses antiquated techniques, in some places the scratches are reminiscent of etchings, the delicate images of early graffito art which were found on walls and memorials long before the time of the tags and stencils of today’s graffiti sprayers. Although the photographs taken by Lipuš are relatively recent, they therefore seem much older; as if a disassociated patina overshadowed them. They elude the viewer on various levels, also through the black missing parts in their bodies. For example, Friederike Mayröcker is missing one half of her face, Peter Turrini has to manage with only one eye and Feridun Zaimoglu has been forbidden to speak (he has no mouth), whilst Markus Werner’s shoulder, part of his jaw and neck have been removed. Walter Kappacher’s face has been split into three parts, whilst Marica Bodrožić and Gerhild Steinbuch are allowed to stay more or less complete. The more scratched a negative is, the more the portrayed people withdraw into the impenetrable depth of the picture: Drago Jančar, for example, seems to be partly concealed by a veil; Kathrin Röggla is hiding behind streaks. As far away as they seem to be from us, they are still close to us. The staring eyes of Walter Kappacher, Robert Menasse’s frown and Gerhild Steinbuch’s slightly bored look bring them back to us into the here and now. A fundamental factor in photography – the dichotomy between presence and absence – is thereby underlined. It’s not difficult to think of those “scratches” and “dephotographisations” as archaeological finds. Only Lipuš does not excavate any objects; instead he tries to find a person out, to reveal their character layer by layer.

Lipuš’s attitude towards his subjects changes: sometimes affectionate, sometimes ironic, sometimes both. Robert Menasse is given a funky haircut – or is it perhaps genius thoughts emanating from his head? – moreover, there is a knife, a trident and a flower in his jacket pocket. The young Steinbuch gets a small flower on her hat; Zaimoglu, on the contrary, gets a whole bouquet put in front of his chest. Markus Werner gets a replacement for his cut off shoulder, and he is allowed to smoke, too. Maja Haderlap’s hair seems to have grown, or perhaps she has grown a halo. Who knows? Out of Peter Handke’s shoulder grows a little heart. A tiny train, a wheel and a figure bustle around in Gert Jonke’s picture.

These are symbols that are as small as those on search pictures; one literally has to look for them with a magnifying glass. Only the very observant viewer can detect these icons which hide in the texture of the picture although they are so obviously there. They form opposites to the often fairly serious looking authors – tiny commentaries speaking with the wink of an eye of the easiness of life, writing and art-making.


 KRATZUNGEN – VERFOTOGRAFIERUNGEN
Stefan Gmünder

Das Leben ist nicht rund, das Leben ist eine zerbrochene Flasche, sagte der Schauspieler Omar Sharif einmal in einem Interview. Ich weiß nicht, warum mir dieser Satz beim Betrachten von Marko Lipuš’ Kratzungen in den Sinn kam – und dann nicht mehr aus dem Kopf ging. Vielleicht weil er so gut zu Omar Sharif passt, denn schließlich hat er sich uns nicht als Mensch, sondern als melancholischer, leidenschaftlicher Doktor Schiwago in die Festplatte der Seele eingebrannt. Vielleicht auch, weil dieser kurze Satz eine Geschichte erzählt, eine Lebensgeschichte, mit Brüchen, Erschütterungen, denen des armem Schiwago  eventuell nicht einmal unähnlich. Vielleicht aber auch, weil Lebensgeschichten, Geschichten überhaupt, mit Erinnerung zu tun haben, und Erinnerung mit Literatur und diese hängt wieder mit Bildern zusammen, mit inneren, subjektiven, die bei der Lektüre entstehen, aber auch mit äußeren, denn wer interessiert sich nicht dafür, wie der oder jene aussieht, die ein Buch geschrieben hat, wie Gert Jonke aussieht, oder Friedericke Mayröcker, oder Markus Werner. 

„Das Werk des Künstlers muss sprechen, sprechen können. Das Werk soll ohne Erklärung, ohne Beipackzettel des Kunstschaffenden funktionieren“ schreibt der 1974 in Eisenkappel geborene und zweisprachig (deutsch und slowenisch) aufgewachsene Marko Lipuš in seinem Manifest „Allgemeiner Text zur künstlerischen Fotgografie“. Und: „Die heutige künstlerische Fotografie ist gedankenlos, medienfremd, ideenlos, elitär, visuell nichtssagend, inhaltlich nicht überzeugend, übertrieben konzeptuell und ästhetisch anspruchslos.“ Ein Manifest setzt eine klare Haltung voraus, Wut über die Zustände, einen wachen Blick und Kenntnis des Handwerks und der Traditionen. H. C. Artmann, ein anderer Manifestschreiber, postulierte in seinem poetischen Manifest:  „Man kann ein Poet sein, ohne je ein Wort geschrieben zu haben“. Es ging Artmann allerdings nicht darum, das Leben ganz der künstlerischen Produktion zu unterwerfen, sondern um eine bestimmte Sicht der Welt, eine Einstellung dem Leben gegenüber. Das Wort Einstellung bezeichnet auf Deutsch nicht nur die Haltung, die jemand zu den Dingen hat, sondern auch einen Begriff aus der Fotografie, die Licht- und Zeitwerte und die Perspektive, mit denen der Fotografierende aufnimmt. Jede fotografische Einstellung zeigt die Haltung dessen, der das Bild aufgenommen hat. Darüber haben schon viele nachgedacht, Walter Benjamin in seiner kleinen Geschichte der Fotografie etwa, oder Susan Sontag in ihrem Essay „Über Fotografie“, in dem sie sagt, wenn man fotografiere, lerne man verstehen, warum die Kamera zur gleichen Zeit identifiziere und isoliere und Roland Barthes schreibt in „Die helle Kammer“, jeder müsse in Fotos seine eigene Lektüre lesen, sich in der Betrachtung fotografischer Bilder zu seiner Subjektivität bekennen. 

Das alles interessiert Lipuš, der sich in der Prager Akademie für Fotografie, in der Wiener Schule für künstlerische Fotografie und an der Wiener Grafischen zum Fotografen ausbildete und in Mailand und London lebte, eher wenig – Obwohl seine in Anführungsstrichen „normalen“ Autorenfotos von der FAZ über die NZZ und die ZEIT in diversen deutschsprachigen Printmedien publiziert werden. Fotografie ist für ihn trotzdem keine technisch optimierte Form naturalistischer Darstellung oder eine Schwundstufe des Films. Er will es radikaler, mit mehr Wucht, wie seine Kratzungen, die er von österreichischen, deutschen, schweizer und slowenischen Schriftstellern macht, zeigen. Fotografie ist für Lipuš ein Medium, das Dinge zu leisten im Stande ist, die anderen verwehrt bleiben. Es geht ihm darum, das Wesen der Fotografie zu begreifen, es entsprechend einzusetzen und, so wie in den Kratzungen, vielleicht sogar literarische Gedanken sichtbar zu machen, Worte visuell zu dokumentieren. Die Kratzungen als Spiel über die Bande also. Lipuš integriert jeweils eine Textpassage, eine textliche Momentaufnahme gleichsam, aus einem Werk des porträtierten Autors in die Momentaufnahme Fotografie (in das Porträt von Bettina Balaka zum Beispiel eine Stelle aus ihrem neusten Roman „Eisflüstern“). Er schneidet das Porträt und somit das Bild, das wir uns vom Autor, der Autorin machen, zerkratzt, klebt, überlappt es und lädt es, je nach ausgewählter Passage, Thema oder Handlungsstrang mit Symbolen auf. Mit einem Mal werden Brüche sichtbar, aber auch Verbindungslinien und falls man das Buch kennt, hat man vielleicht ganz andere Dinge „gesehen“, man ist irritiert – und schaut genauer hin. In den Kratzungen, die im Gegensatz zu herkömmlichen Collagen reproduzierbar sind, weil Lipuš am 13 mal 18 cm großen Negativ arbeitet, verbindet sich das textliche Zeichen mit dem optischen, der Text wird, wie es Lipuš nennt, verfotografiert. 

Du sollst Dir ein Bildnis machen …Die Kratzungen verstecken und enthüllen zugleich, sie erklären nicht, sie tippen an, weisen in eine Richtung, interpretieren und beschreiben eine mögliche Lesart. Die Qualität guter Bücher zeigt sich vor allem darin, dass sie „halten“, dass man sie immer wieder lesen kann, überrascht ist, gewisse Dinge, die doch auf der Hand liegen, bei der letzten Lektüre nicht „gesehen“ zu haben. Das hat mit Komplexität zu tun, mit Verdichtung und ja, auch mit Leerstellen, Geheimnissen, die der Text bewahrt. Die Kratzungen sind Bilder, die halten, weil sie den Abgebildeten und den Texten ihr Geheimnis lassen und dem Betrachter die Freiheit des eigenen Blicks. Ich mag sie, weil sie trotz aller Brüche etwas Kompaktes haben, sie zeigen nicht eine Person oder ein Werk, sie bilden nicht eine äußere Erscheinung ab, sondern umreißen eine Gestalt. Und das Leben? Natürlich, wir haben es alle am eigenen Leib erfahren, es ist nicht rund, es ist vieldimensional und zersplittert. Doch das Fragment, die Scherbe, kann das stärkere Bild eines verlorenen Gefäßes sein als dessen vollständige Kopie und es ist das Privileg der Kunst, an der Illusion des Unteilbaren, am Moment, am subjektiven Blick festzuhalten.  

KRATZUNGEN – VERFOTOGRAFIERUNGEN
Stefan Gmünder

Life is not round, life is a broken bottle, the actor Omar Sharif once mentioned in an interview. I don’t know why this sentence came to me and then sustained in my mind while regarding Marko Lipuš ‘ scratches -. Perhaps it suits Omar Sharif so well because he after all burned himself into the non-removable disk of our minds – not as a human being, but as a melancholic, passionate doctor Schiwago. Maybe because this short sentence tells a life history with breaks and psychic trauma, possibly even similar to those of poor Schiwago. Perhaps also, because life stories and all stories deal with memory. Memory is connected with literature and the same is connected again with images. With subjective images from inside, which develop while reading. Furthermore, literature is related with outside images, because who isn’t interested in how the person looks like who wrote the book, how Gert Jonke looks, the face of Friederike Mayröcker or Markus Werner.

“The work of the artist must speak, be able to speak. The work must stand for itself – without explanation, without enclosing an instruction manual” writes Marko Lipuš, born in Eisenkappel / Železna Kapla in 1974, grew up bi-lingual (German and Slovenian), in his manifesto “General text on artistic photography”. And: “Today’s artistic photography is thoughtless, far off the medium, without ideas, elitist, visually insignificant, content wise unconvincing, exaggerated conceptually and aesthetically undemanding.” A manifesto presupposes a clear attitude, rage over circumstances, alert view and knowledge about handicraft and traditions. H. C Artmann, another manifesto writer, postulated in his poetic manifesto: “One can be a poet, without ever having written a single word.” His concern was not to dedicate life completely to artistic production however, but around a certain view of the world; an attitude facing life. The German word “attitude” describes not only the attitude which one has towards things, but also signifies a term in the sense of setting for photography, standing for light, time and perspective. Each photographic setting shows the position of the one who took the picture. Many have thought about this point before. Walter Benjamin in his small history of photography, or Susan Sontag in her essay “On photography”, in which she notes: “while taking photographs one learns why the camera at the same time identifies and isolates” Roland Barthes writes in “Camera Lucida: Reflections on Photography” that everyone must read ones´ own literature in photography, to confess ones´ own subjectivity.

All this captures rather small interest of Lipuš who educated himself first at the Academy for photography in Prague and at the Viennese school for artistic photography and as well at the Viennese graphic school while living in Milan and London. – Although his, in stating lines “normal” photos of authors are published in the FAZ, the NZZ, the ZEIT, and in various German-language printed media. Nevertheless for him photography does not stand for a technically optimized form of naturalistic representation or a decrease stage of film. He wants to show it more radically, with more power, as his scratches demonstrate he takes of Austrian, German, Swiss´ and Slovenian writers. For Lipuš photography is a medium, which is able, to fulfil things, which remain refused to others. He is concerned to understand the nature of photography and to use it accordingly. Likewise to make literary thoughts visible with words as documented in the scratches. Lipuš integrates a text passage comparable to a text snapshot; from a work of the portrayed author into the momentary photography. He cuts the picture which we get of the author, the authoress, scratches and sticks, overlaps it and uploads it depending upon selected passage, topic or action with symbols. Suddenly cracks but also connecting lines become visible, and if one knows the book; perhaps has had “seen” completely different things. One is irritated – and looks even closer. In the scratches, which give the possibility of reproduction, contrary to conventional collages; Lipuš works directly onto the 13×18 cm large negative; the text is connected with the visual image. The text becomes – as Lipuš calls it: “verfotografiert” – which can be expressed in English at the closest as “re-photographed”.

You shall make yourself an image… the scratches hide and reveal at the same time. They explain, they lightly touch, point into a direction, interpret and describe a possible reading form. The quality of good books can be approved by the formula that they “hold”: One can read them over and over again and to be surprised, to discover certain things which are obvious, but nevertheless not to have “seen” them within the last reading. That has to do with complexity, with compression and as well with blank spots and secrets which the text retains. The scratching are pictures, which remain, because they leave the secrets to image and text and the liberty to the viewers own gaze. I like them because they have something compact despite all breaks. They do not show a person or a work, do not illustrate a superficial feature, but outline a shape. And what about life? – Of course, we experienced it with our entire body. These experiences are not round; they are multi-dimensional and splintered. But the fragment; the piece of broken glass can be the stronger picture of a lost glass than its complete copy. And it is the privilege of art, to hold to the illusion of the indivisible; to the moment and to the subjective view.


VOM ZERSCHLAGEN EINES TOTEN SPIEGELS
Ulrich Tragatschnig

Über Marko Lipuš´s Verfotografierungen

Mit dem Zerbrechen eines Spiegels beginnt nicht nur viel Unglück, zumindest für den Abergläubischen, sondern auch der Wiener Aktionismus in Österreich beziehungsweise das „Fest des psycho-physischen Naturalismus“, die erste öffentliche Aktion von Otto Mühl und Hermann Nitsch im Jahre 1963, in deren Rahmen auch sonst noch einiges zu Bruch ging und „versumpfte“. So war – im Rückbezug auf eine schon im 19. Jahrhundert gegen den fotografischen Realismus verwendete Metapher – das Sinnbild einer Kunst gefunden, der es nicht mehr um die Widerspiegelung von Äußerlichkeiten, sondern das Entäußern selber ging.
Das wilde Spiel ist nun zu Ende. Wenn der junge Fotograf und Fotokünstler Marko Lipuš den Negativen seiner Autorenporträts Gewalt antut, dann nicht, um damit ungenutzte Aggressionen zu verarbeiten oder eigene Triebwelten offenzulegen. Dazu fallen die Risse, Furchen und Schrammen, die er den Aufnahmen zufügt, auch zu bedachtsam, viel zu komponiert aus. Er kratzt vielmehr gezielt an der medialen Oberfläche seiner Fotos. Die Grundlage des Abbilds hinterfragend, verlebendigt er einen Bildbegriff, der dem fotografischen Porträt zumeist nicht zukommt.

Hält man sich die Entwicklung des Bildbegriffs vor Augen, wird man, vielleicht mit Erstaunen, schnell feststellen können, dass die Fotografie zwar eine Revolution im Praktischen der Bilderzeugung mit sich brachte, die theoretische Fundierung dessen, was ein Bild ist, fürs Erste aber gar nicht berührte. Eher zog sie die strikte Konsequenz aus einer Idee, die zur damaligen Zeit, 1839 also, bereits seit mehr als 400 Jahren fertig formuliert war. Leon Battista Alberti war um 1435 darangegangen, die Experimente Brunelleschis zur Herstellung eines zentralperspektivischen Bildes, das der natürlichen Raumwahrnehmung entsprechen könnte, in lateinische Worte zu fassen. Das Bild wird von ihm als Ergebnis von recht komplizierten, ihrem Wesen nach allerdings recht mechanischen Berechnungen dargestellt. Um diese auch metaphorisch zu erläutern, greift er auf einen sehr bald sehr berühmten Vergleich zurück: Als durch die Sehpyramide gezogener Schnitt sei das Bild wie ein geöffnetes Fenster. Damit war das Grundkonzept des realistischen Bildes gewissermaßen paradox versprachlicht: Wiewohl selbst eine Fläche, zeigt das Bild etwas anderes, als wäre es selbst aus Glas und durchsichtig, wie Alberti weiter erläutert. Es repräsentiert damit etwas, mit dem es qualitativ nichts zu tun hat, etwas, das offensichtlich hinter ihm liegt. Die Theoretisierung des fotografischen Bildes konnte hier nahtlos anschließen, wenn sich auch zunächst, wohl um der Oberflächenbeschaffenheit der Daguerreotypie nachzukommen, Albertis Fenster- bzw. Glasmetapher zu der ganz nahen des (Silber-)Spiegels verschob. „Stellen Sie sich jetzt vor, dass der Spiegel die Eindrücke der Objekte bewahrt hat, die sich in ihm spiegeln, und Sie haben eine beinahe komplette Vorstellung des Daguerreotyps“, erläutert der Kunstkritiker Jules Janin in dem wohl ersten Text, der das fotografische Medium beschreibt. Oliver Wendell Holmes spricht von der Daguerreotypie ganz ähnlich als fixiertem Spiegelbild. Auch wenn nun die Oberfläche des Bildes dank neuer Vergleichsmöglichkeiten als materiell vorgestellt wird, ändert das doch wenig an Albertis Konzeption. Die Fotografie wird zum Prototyp des realistischen Bildes, wie es Alberti vorgeschwebt war. Sie hält – zumindest in den Augen ihrer ersten Befürworter – die Natur in nahezu perfekter Weise fest.

Für ein bildliches Medium sind daraus aber auch negative Konsequenzen zu ziehen und auch sehr bald gezogen worden. Schließlich bildet die Oberfläche eines perfekt realistischen Bildes selbst nichts ab, sondern trägt bloß die Abbildung von etwas ganz anderem. Je realistischer ein Bild ist, desto mehr muss es gewissermaßen seine eigene Bildhaftigkeit verleugnen, um stattdessen zu einer transparenten Folie zu werden, hinter welcher abgebildet wird. Je realistischer ein Bild ist, desto weniger kann es die Handschrift eines Künstlers zeigen. Direkt lässt sich etwa an die Spiegelmetapher mit dem Verdikt der Vorspiegelung anschließen. Oder der Spiegel wird als ein von vornherein toter hingestellt: als Medium zur Spiegelung ideenfernen Scheins, das qualitativ nichts mehr mit einem künstlerisch authentischen Bild zu tun hat, weil es zwar die Kriterien materialistischer Objektivität erfüllt, aber immun gegen jede Spur von Subjektivität ist. So sehr zum Beispiel Charles Baudelaire die Abbildungsleistung der Fotografie zu würdigen wusste, wenn es um ein realistisches Porträt seiner Mutter ging, so kritisch steht er dem mechanistischen Betragen der Fotografie gegenüber, wenn es um ein künstlerisches Bild geht. Die Fotografie bringt er in Zusammenhang damit, was er als „industriellen Wahn“ seiner Zeit bezeichnet, sieht in ihr so etwas wie eine die künstlerische Fantasie vernichtende Maschine, die das auf reine Konsumption beziehungsweise Selbstgenügsamkeit gegründete Verhältnis der Bourgeosie zur Wirklichkeit befriedige, alles, nur keine Wahrheit liefere.
Die Diskussion war im 20. Jahrhundert noch lange nicht zu Ende. 1927 brachte Ernst Kallai auf den Punkt, was der Fotografie in seinen Augen zum künstlerischen Medium fehle: die Faktur als „optisch wahrnehmbare Spannung zwischen Bildstoff und Bild“. Die Fotografie ist für ihn deshalb auch unfähig, wirklich zu verdinglichen: „Gewiss, sie schafft Nachbildungen der Wirklichkeit, die blendend klar und deutlich sein können. Aber das real-stofflich bedingte Empfindungssubstrat dieser reichen Sinnestäuschungen ist überaus arm, fast wesenlos.“ Und auch er kommt auf die althergebrachte Metaphorik zurück: „Die fotografische Gestaltungsebene ist eine makellose durchlässige Spiegelfläche.“

1945 hält André Bazin schließlich zwei Arten von Realismus gegeneinander: einen nicht bildgemäßen, psychologisch operierenden, das heißt auf die bloße Augentäuschung ausgerichteten, illusionistischen und einen weit tiefgründigeren, ästhetischen, der imstande ist, nicht bloß das Erscheinen der Dinge im Raum, sondern auch deren spirituelle Wirklichkeit wiederzugeben. Für ihn hat sich die Malerei mit Erfindung der Perspektive gewissermaßen versündigt, hat in diesem Sündenfall den „Symbolismus der Form“, wie er noch das Anliegen der mittelalterlichen Kunst gewesen sei, dem puren Kopieren von Außenwelt geopfert. Und er sieht gerade die Fotografie als quasi neutestamentliche Offenbarung und also in der Lage, das Bild von dieser Urschuld zu befreien, weil sie das ursprünglich magisch begründete Verlangen nach reliquienmäßig treuer Konservierung eines Abbilds auf sich nehmen und befriedigen könne. Von ihr, die endlich den Mechanismus zur Erzeugung des naturgetreuen Abbilds in sich als Bilderzeugungsapparatur verkörpere, falle nun auch jener Schatten des Zweifels ab, der das realistisch gemalte Bild noch ob der Gewissheit manufaktorieller Herstellung beeinträchtigen musste. Die Fotografie besitze vielmehr unseren Glauben an die Wirklichkeit des mit ihr Abgebildeten, könne dementsprechend wahrhaftig re-präsentieren und erlaube es schließlich der modernen Malerei, sich auf ihre ästhetisch-stilistischen Qualitäten zurückzubesinnen.

Freilich war Kallai und Bazin zu ihrer Zeit von der fotografischen Praxis längst widersprochen worden. Die Pikturalisten waren wohl die Ersten, die es wagten, die Transparenz des fotografischen Mediums selbst infrage zu stellen. Also operierten sie mit Unschärfen, malerisch wirkenden Abzugstechniken, Retuschen, alles, um die Oberfläche des fotografischen Bildes zum Vorschein zu bringen und damit dessen Bildmäßigkeit gegen das damals der Fotografie noch starr zugedachte Abbildungsparadigma zu verteidigen.

„Ich denke, die Foto-Kunst soll sich ganz einfach mit der Ästhetik beschäftigen. Das Visuelle ist der Ursprung des Bildes. Das Visuelle alleine soll ausdrücken, bewegen, ansprechen, gefallen oder auch nicht. Das Werk des Künstlers muss sprechen, sprechen können. Das Werk soll ohne Erklärungen, ohne Beipackzettel des Kunstschaffenden funktionieren.“

Wer so spricht, ist allerdings kein Pikturalist zur vorletzten Jahrhundertwende, sondern Marko Lipuš in seinem Manifest zur künstlerischen Fotografie. Ging es vor 100 Jahren noch darum, die Fotografie überhaupt in das Kunstsystem zu integrieren, aus den der Malerei entgegengebrachten Dienstpflichten zu befreien und als eigenständiges, künstlerisches Medium zu etablieren (was erst viel später, im Sog konzeptueller Ansätze, endgültig gelingen sollte), geht es Lipuš heute darum, dem Porträt – und also gerade jenem Genre der Fotografie, das sich noch am ehesten mit Bazin als Reliquie nutzen ließe – künstlerische Qualitäten einzuverleiben beziehungsweise es an seine Bildmäßigkeit zurückzubinden. Im unmittelbaren, dennoch zumeist nüchtern-verhaltenen Betrachterbezug der Porträtierten mögen sie zunächst jenem Wirklichkeit konservierenden Realismus kongruent laufen, den Bazin als wahrhaft fotografischen im Blick hatte. Zur Kompensation des von Kallai beschriebenen Mankos fokussiert Lipuš aber dann die zwischen Porträtiertem und Rezipient eingezogene Vermittlungsebene, bricht die vermeintliche Transparenz des fotografischen Mediums. Irgendwie muss an der fotografisch glatten Oberfläche zur Veranschaulichung derselben gekratzt werden. Das Medium selbst wird schließlich erst via Verwundung wahrnehmbar.
Lipuš nimmt sich seine Negative vor, zerschneidet sie, fügt ihnen kratzend Wunden zu, bringt den auf edlem Barytpapier großformatig ausbelichteten Abzügen solcherart aber auch Symbolik bei, arbeitet Grafismen in sie ein: konstruktiv in Weiterzeichnung oder Ergänzung der verschobenen Konturen die einen wie Verschleißerscheinungen die anderen.

Was dabei passiert, ist vielleicht am besten semiologisch zu beschreiben: Es bricht in Stücke, was für Roland Barthes eine kontinuierliche Botschaft ohne Code war, die Wirklichkeit zwar reduzieren, aber nicht transformieren konnte, weil es der Trennung von Signifikant (dem Bezeichnenden) und Signifikat (dem Bezeichneten) widersprach, um stattdessen eben den Effekt des Realen zu zeitigen, noch bevor es dann – im Aufscheinen der es bestimmenden Gesetzmäßigkeiten – von einer zusätzlichen, konnotierten Botschaft ohnedies eingeholt werden würde. Barthes bleibt der Spiegelmetaphorik treu, wenn für ihn die Herstellung eines fotografischen Bildes zunächst ein quasi natürliches Ereignis bleibt: „Beim Übergang vom Wirklichen zu dessen Ablichtung ist es keineswegs notwendig, dieses Wirkliche in Einheiten zu zerlegen und diese Einheiten als Zeichen zu konstituieren, die sich wesentlich von dem dargebotenen Objekt unterscheiden; es ist keineswegs notwendig, zwischen diesem Objekt und dem Bild von ihm ein Relais, das heißt einen Code, anzubringen.“

Gerade dem folgt Lipuš nicht. Als direkte Einwirkungen des Bildschaffenden in das Bild widersprechen die Überarbeitungen der Fotos diesem fotografischen Grundprinzip. Was sonst zunächst als Analogon der Wirklichkeit durchgehen hätte können, bevor es in seiner eher konventionellen Repräsentationslogik erkannt worden wäre, wird nun forciert mit „Stil“ versehen, also mit dem, was bei Barthes die analoge Wirklichkeitsreproduktion um eine zusätzliche Botschaft ergänzt. Als Überschreibungen unterstreichen sie die stilistischen Ansprüche der Fotografien, kürzen sie die Entwicklung einer konnotierten (und codierten) Botschaft ab.

Dringt damit die von Baudelaire vermisste künstlerische Fantasie wieder in das Foto ein? Immerhin fördern die bedachtsam in die Fotos eingebrachten Spuren ein letztlich literarisches Moment zutage und kommen so den Bildsujets entgegen. Damit gelingen vielleicht Durchbrüche, Blicke auf eine zweite, weit hintergründigere Wirklichkeit. Im besten Fall auf das, was das Handwerk eines Autors ausmacht. Vielleicht wird damit auch die Form symbolisch, wie es Bazin noch an der Kunst des Mittelalters faszinierte. Die zur Schau gestellte Verletzlichkeit der Oberfläche fällt jedenfalls auf die Abgebildeten zurück, lässt mitunter tiefer blicken. Der Rest ist zweifelsohne Poesie.

SMASHING A DEAD MIRROR
Ulrich Tragatschnig

About Marko Lipuš’s Dephotographisations

Beside a spell of bad luck, at least for the superstitious, the breaking of a mirror also marks the beginning of Viennese Actionism in Austria or rather the “Festival of Psycho-Physical Naturalism”, the first public action by Otto Mühl and Hermann Nitsch in 1963, during which numerous other things also got broken and went “muddy”. And so – reflecting on a metaphor already applied to photographic realism in the 19th century – the symbol of an art was found, an art that was no longer concerned with the reflection of superficialities, but with the laying bare per se.

The wild game is now over. When the young photographer and photo-artist Marko Lipuš violently attacks the negatives of his author portraits, the cracks, grooves, and scratches he applies to the photographs appear far too thoughtful, too composed, to have been inflicted to release pent up aggression or to reveal his own desires. He scratches the medial surfaces of his photographs rather purposefully. Analysing the core of the image, he makes a concept of the image come alive that is rarely associated with photographic portraits.

If you consider the development of the image as a concept, you will quickly notice (perhaps with surprise) that while photography involved a revolution in the practicalities of image production, it left the theoretical foundation of the nature of an image at first untouched. It rather drew a strict conclusion from a fully developed idea that, at that time (in 1839), had been around for more than 400 years. In 1435 Leon Battista Alberti set to work to translate into Latin Brunelleschi’s experiments on creating a linear perspective image, which could match the natural perception of space. He presents the image as a result of quite complicated, but essentially mechanical calculations. To explain these also metaphorically, he uses a comparison, which was to become very famous very soon: as a cut made through the pyramid of sight the image was like a window. Thus, the core concept of a realistic image had been conceptualised paradoxically, as it were: a surface itself, an image shows something else, as if it were made of glass and transparent, as Alberti explains further. Therefore, it represents something qualitatively unrelated, something that obviously lays behind it. Although at first, probably to match the surface texture of the daguerreotype, Alberti’s window or rather glass metaphor, shifted towards that of the (silver) mirror, the theorisation of the photographic image can be seamlessly linked hereto. “Imagine that the mirror retained an impression of the objects it mirrored and you have a pretty complete introduction to the daguerreotype,” explains art critic Jules Janin in the arguably first ever text to describe the photographic medium. Similarly, Oliver Wendell Holmes speaks about the daguerreotype as a fixed mirror image. Even though now, thanks to the new comparative possibilities, the image’s surface is described in a material way, this does not much affect Alberti’s concept. Photography becomes the prototype of the realistic image, as Alberti envisioned. It captures nature – at the least in the eyes of its first advocates – in a nearly perfect way.

For a pictorial medium this can also result in negative conclusions and very soon did. After all, the surface of a perfect realistic image itself does not depict anything, but instead carries the image of something completely different. The more realistic an image is, the more it must effectively deny its own graphic quality to become a transparent foil behind which something is displayed. The more realistic an image, the less it can show the artist’s style. The mirror metaphor can be directly linked to the verdict of pretence, or the mirror is described as dead to begin with: as a medium for reflecting illusions devoid of ideas, which has qualitatively nothing to do with an artistically authentic image because while it fulfils the criteria of materialistic objectivity, it is also immune to any trace of subjectivity. For example, as much as Charles Baudelaire appreciates the imaging quality of photography when the subject is his mother’s realistic portrait, he takes a very critical stand towards the photography’s mechanical behaviour when an artistic image is required. He establishes a connection between photography and what he calls the “industrial delusion” of his time. To him, photography is like a machine that destroys artistic imagination, satisfying the bourgeoisie’s understanding of reality based purely on consumption and self-sufficiency, and providing everything but the truth.

In the 20th century the discussion was not over by a long shot. In 1927 Ernst Kallai defined what, in his eyes, the photography was lacking to be considered an artistic medium: the factor of an “optically perceivable tension between the image material and the image”. Therefore, to him, photography is also incapable of truly objectifying: “Certainly, it creates copies of reality that can be brilliantly clear and precise. But the perception substrate of these rich illusions, conditional upon actual material, is extremely poor, almost insubstantial.” He too falls back on the traditional metaphor: “The photographic level of composition is a spotless, pervious mirror surface.”

In 1945 André Bazin finally compared the two types of realism with each other: the non-pictorial, psychologically acting, illusionistic and the far more profound, aesthetic one, capable of showing not only the objects’ physical appearance in space, but also their spiritual reality. To him, by inventing perspective, the art of painting had, in a way, sinned and had, in this fall from grace, sacrificed the “symbolism of form” (something the art of the Middle Ages concerned itself with) on the altar of purely copying the outside world. He considers photography a New Testament-like revelation, as it were, capable of freeing the picture from this original sin because it could take upon itself to and actually satisfy the desire (which has its origins in magic) for the relic-like exact conservation of an image. Photography finally embodied the technique for the creation of a true-to-life image of the reality as an image generating apparatus. As such – in contrast to a realistically painted picture, which was affected by the certainty of its manufactured creation – a photograph was beyond the shadow of a doubt. In fact, photography possessed our belief in the reality of that which is depicted by it, and could therefore truly represent, thus finally allowing modern painting to reclaim its aesthetic-stylistic qualities.

Already in their time Kallai and Bazin have admittedly been contradicted by the photographic practice. The Picturalists were probably the first who dared to question the transparency of the photographic medium as such. They employed blurring, pictorially looking duplicating techniques, re-touching – everything to unmask the surface of a photographic image and thus to defend its pictorial qualities from depiction paradigms rigidly attributed to photography at that time.

“I think photo art should simply be concerned with aesthetics. The visual is the origin of the image. The visual alone is to express, move, appeal, and please or not. An artist’s work must speak, be able to speak. The work must stand for itself – without explanation, without an instructions leaflet from the artist.”

These were not the words of a Pictorialist from the turn of the second-last century, but those of Marko Lipuš in his manifest on artistic photography. If only 100 years ago the issue was still whether to integrate photography into the art world at all, to free it from painters’ official duties, and to establish it as an independent artistic medium in its own right (which was to succeed only much later, in the wake of conceptual approaches), today Lipuš is concerned with bestowing the portrait – especially that of the photographic genre, which is the only type likely to be used as a relic in a Bazinian sense – with artistic qualities, or rather, tying it back to its pictorial qualities. The immediate, but still mostly soberly composed reference to the observer of the portrayed could be congruent with the reality-preserving realism Bazin considered to be truly photographical. To compensate for the flaws described by Kallai though, Lipuš then focuses on the conveyance level that appears between the portrayed and the recipient, breaks the perceived transparency of the photographic medium. Somehow, the photographic smooth surface must be scratched in order to be visualised. After all, the medium itself becomes perceivable only by being wounded.

Lipuš takes his negatives, cuts them, inflicts wounds by scratching them and bestows the large-format prints laid out on precious baryte paper with a certain symbolism, works graphisms into them: some of them constructively redrawing or completing the shifted outlines and others appearing as wear and tear.

What happens then is perhaps best described semiologically: the continual message without a code, in a Barthian sense – which indeed reduced reality, but could not transform it because that would contradict the divide between the signifié (the signified) and the signifiant (the signifier) – is broken into pieces to instead bring about that same effect of reality before (in the appearance of the principles by which it is defined) an additional connoted message would catch up with it anyway. Barthes stays loyal to the mirror metaphor, as the creation of a photographic image initially remains for him a quasi-natural event: “During the transition from reality to its photocopy it is by no means necessary to divide this reality into units and to constitute these units as signs, which differ substantially from the presented object; it is by no means necessary to create a relay, a code that is, between this object and the image.”

This is precisely what Lipuš does not follow. Being the artist’s direct influence on the image, the revisions of the photograph contradict the basic principle of photography. What otherwise initially could have been accepted as the analogue of reality, before it would have been recognised by its rather conventional representational logic, is now being firmly furnished with “style”; in other words, with what Barthes’ additional message amends the analogue reproduction of reality. Overwriting the image, they highlight the stylistic ambitions of the photographs and shorten the development of a connoted (and encoded) message.

Does this mean that the artistic imagination Baudelaire was missing will once more invade the photograph? After all, the traces deliberately worked into the photos unearth an ultimately literary moment and thus fit in with the images’ theme. This may result in breakthroughs, insights into a secondary, deeper background reality and in the best possible case, into what constitutes the essence of an author’s work. Perhaps the form thus becomes symbolic, as what fascinated Bazin about the art of the Middle Ages. At any rate, the vulnerability of the surface put on display reflects on the portrayed, and also allows for a deeper insight. The rest is, without a doubt, poetry.


DIE FOTOGRAFISCHE MALEREI
Tanja Cigoj

Das Portrait in der bildenden Kunst legt stellenweise mehr über den Portraitisten selbst offen als über den Portraitierten, ist oft zeitlos in der Zeit oder blickt zurück in die bereits verflossene Zeit, lehnt sich an die Imperative des Augenblicks in der bildenden Kunst, vor allem aber offenbahrt es die Beziehung zwischen dem Abbilder und dem Abgebildeten.

Im traditionellen fotografischen Portrait ist der Portraitierte zum Großteil geprägt durch das augenblickliche Erfaßtwerden im Objektiv, durch den eingefrorenen Ausschnitt seiner Individualität, den Ausschnitt aus seinem Dasein und dem Dargestelltwerden in der Welt. Der Fotograf als Schöpfer bleibt so trotz des Dialogs zwischen ihnen im Hintergrund, er zieht sich aus der Szene zurück und wird zum Erzähler, Beobachter und Chronisten des Abdrucks des Realen. Deshalb ist in der Fotografie von Marko Lipuš das Beschreiten der bildnerischen Bereiche um so wahrnehmbarer: die fotografischen Figuren aus der Serie Kratzungen / Praskanke sind auf dem Negativ ausmanipuliert, wiedergegeben zu Portraits Einzelner, wie Lipuš sie sieht, erlebt, erliest und sie dann in der Einsamkeit des künstlerischen Ambientes gemäß der innersten Geprägtheit ausführt. Um sie als Einzelne darzustellen, setzt Lipuš nicht ihre Umwelt in Szene, er stellt sie nicht in ausgedachte Szenografien oder in Kostüme, die ihre Geschichte erzählen würden, ebenso sucht er nicht die Herausforderung in der Komposition, Helligkeit und im physischen Erscheinungsbild – er behandelt sie und stellt sie vor durch das Prisma der eigenen Sehweise. Das sind Menschen, die in seiner Welt der Trotzhaltung gegenüber dem Medium gefangen sind, denn er zerkratzt mit scharfem physischen, also äußerem Eingreifen in das Negativ seine Oberfläche, zerschneidet seine Strukturen, zeichnet darauf und klebt dann die so entstandenen Fragmente. Eine Intervention, die mit ihrer Intensität fast gewaltsam, grob wirkt, wird dann als Kollage ausgeführt und mit der Belichtung des bearbeiteten Negativs vollendet. Diese Manipulation zeugt von Interesse des Autors für die Fotografie vor allem in Hinblick der Erforschung verschiedener Ausdrucksmöglichkeiten, der ganze Prozeß ist auf das Überragen und den Überbau des technischen Verfahrens ausgerichtet sowie auf das gewollte Eingreifen in die Standardrolle und Aufgabe des Mediums. Fotografie wird so das Mittel, dem sich der Einfallsreichtum des Geistes und die Einzigartigkeit des schöpferischen Überlegens entgegenstellt. So wie die Mehrheit der kreativ Schaffenden entwirft auch Lipuš die Abweichung, die Ausschaltung des »Apparates« und zieht sich zurück auf die von Originalität und Andersartigkeit getragene Ebene der Wiedergabe. Hiebei wird erneut das Stichwort Arnold Newmans zur Realität, nämlich »die Fotografie, wie allen bekannt ist, ist längst nicht sachlich. Sie ist die Illusion der Realität, mit der wir unsere eigene Welt erschaffen.«

Eine leichte Parallele könnten wir auch zu dem großen David Hockney und seiner berühmten Serie »joiners« ziehen, denn Lipuš verwendet die Fotografie mit Absicht dazu, um ein Bild zu schaffen und auszuarbeiten. Seine »Fotografie-Bilder« sind nicht selbstverständliche Fotografien und können nicht (bloß) als solche verstanden werden. Diese »fotografischen Kollagen« sind das Ergebnis der kritischen Auseinandersetzung mit dem Medium, sind die Manifestation der persönlichen Terminologie bis zum Grad, bei dem in ihnen die Gegenwart des Autors tiefer zu verspüren ist als die seines Abgebildeten.

Im weiteren Sinne schließen Lipuš’ Kratzungen auch an das fotografische Opus einer Vertreterin des »enfants terribles« in der modischen Fotografie, Deborah Turbeville und ihr Spiel mit den Negativen. Das Zerreißen und Kratzen sowie das Abfangen des scheinbaren Bruchs mit der Fotografie mittels des zerschlagenen Glases offenbahrt die Verwandtschaft in den »bildenden Methoden« dieser beiden Fotografen. Trotz ihrer sehr verschiedenen Konzepte verbindet die Schaffenden in ihrem originellen Experimentieren die Erforschung der äußersten Grenzen des Mediums. Turbeville hat ihre Portraitierten in Ambienten inszeniert, die vom Hauch des Romantischen durchsetzt und mit Erwartungsspannung sowie mit Beklommenheit des Erwarteten durchdrungen waren, während Lipuš in seinen Darstellungen mit rational verhaltener Aussagekraft in dunklere und unausgesprochene Winkel des Persönlichen eingreift.
Und auch deshalb, weil die fotografische Arbeit eben die Perfektion der Idee und die Ausgereiftheit des Inhalts im Wiedererschaffen des Sichtbaren und Gesehenen, des Erkannten anregt, scheint es, daß sich Lipuš’ Portraitierte innerhalb einer Dimension vorfinden, die sich noch weiter jenseits des Realen öffnet.

PHOTOGRAPHICAL PAINTING
Tanja Cigoj

In art history the portrait occasionally reveals more about the portraitist than about the portrayed subject. The portrait can sometimes be timeless or it is looking back to the past, it might emulate the requirements of a particular moment in art history but above all things it discloses the relationship between the painter and the portrayed subject.

However, in traditional photography the subject is mostly characterized by a snapshot, by a fraction of its individuality frozen in time, by just a fragment of its presence and appearances in the world. The photographer stays in the background even though there is a dialog between them. Removed, behind the stage, he becomes and stays the narrator, the observer, and the record keeper of the reflection of reality. Consequently, Marko Lipuš‘s crossing of the border of photography into the field of painting is even more noticeable. The photographical images from the series “Scratchings ” are altered on the negative. They are recreated to constitute portraits of subjects as they have been perceived by the author. Later, in the seclusion of his creative surroundings, they are carried out in a more intimate understanding. Lipuš does not stage their surroundings to represent them in their individuality. He does not place them into artificial conceived sets or costumes which would relate the story of the depicted subjects. Also, he isn’t testing the composition, lighting or physical appearances; he treats and presents subjects through the prism of his own visualization. These are people trapped in his world that defies the medium for he encroaches upon the negative; scratching its surface with a sharp physical (external) impact. He cuts its structure, he paints/draws and glues the fragments made from this process on the negative. The severe interference that appears almost violent, brutal, is continued by constructing a collage and then completed by exposing the finished negative. This treatment shows that the author is primarily interested in exploring the possibilities of photographic expression. The goal of the entire process is to go beyond the technical procedure and to deliberately interfere with the conventional role and function of this medium. Photography becomes only a device manipulated by the inventiveness and individuality of creative reflection. Like most other artists, Lipuš aspires to the departure, the disconnection from the “apparatus” and retracts to the level of creation that is marked by originality and dissimilarity. This takes one back to the remarks by Arnold Newman “Photography, as we all know, is not real at all. It is an illusion of reality with which we create our own private world.”

We could also draw a parallel to the great David Hockney and his famous series “Joiners” since Lipuš employs photography with the intention to create, to make a painting. His “photography – paintings” are not and cannot be recognized as photography only. These “photographic collages” are the result of critical assessments of the medium; they are a manifestation of personal expression to that extent that the presence of the author can be sensed to a degree larger than that of the person portrayed.

In a broader perspective the “Scratchings” of Lipuš can be also tied to the photographic work of Deborah Turbeville, one of the “enfants terrible” of the world of fashion photography. She plays with the negative by tearing and scratching it and by conveying an image of vulnerability by photographing through broken glass. In spite of their very different art concepts there are similarities in artistic methods and techniques. Both artists are exploring the boundaries of this medium by very unique methods. Turbeville staged her portrayed subjects in an ambience tinged with romanticism, saturated with the tension of expectations and with the anxieties of the anticipated; while Lipuš, with his intellectually retained expression, reaches into the darker, unarticulated corners of the private.

Because the photographic work “animates” the precise deducing of an idea and the perfect shaping of content in recreating the previously seen and recognized, it seems that the persons portrayed by Lipuš have found themselves in a dimension reaching beyond reality…


KRATZEN AN DER OBERFLÄCHE
Ulrich Tragatschnig

Marko Lipuš zeigt, wie er fotografische Autorenporträts mit künstlerischem Mehrwert ausstattet.

„Ich denke, die Foto-Kunst soll sich ganz einfach mit der Ästhetik beschäftigen. Das Visuelle ist der Ursprung des Bildes. Das Visuelle alleine soll ausdrücken, bewegen, ansprechen, gefallen oder auch nicht. Das Werk des Künstlers muss sprechen, sprechen können. Das Werk soll ohne Erklärungen, ohne Beipackzettel des Kunstschaffenden funktionieren.“

Wer so spricht, ist kein Pikturalist zur vorletzten Jahrhundertwende, sondern der junge Fotograf und Fotokünstler Marko Lipuš in seinem Manifest zur künstlerischen Fotografie. Ging es vor 100 Jahren noch darum, die Fotografie überhaupt in das Kunstsystem zu integrieren, aus den der Malerei entgegen gebrachten Dienstpflichten zu befreien und als eigenständiges, künstlerisches Medium zu etablieren (was erst viel später, im Sog konzeptueller Ansätze endgültig gelingen sollte), geht es Lipuš heute darum, zurück zu rudern und neu zu selektieren. Denn nicht alles, was sich mittlerweile als Fotokunst ausgibt, ist in seinen Augen eine solche. Also trennt er streng zwischen Foto-Handwerk und Foto-Kunstwerk.

Die Autorenbildnisse aus der Serie Kratzungen-Verfotografierungen folgen im unmittelbaren, dennoch zumeist nüchtern-verhaltenen Betrachterbezug zunächst einer eher konventionellen Repräsentationslogik Marke Buchrücken. Um aus ihnen Kunst zu machen, folgt Lipuš einer alten Rezeptur. Der Kunsthistoriker Ernst Kallai (1890-1954) brachte 1927 auf den Punkt, was der Fotografie zu seiner Zeit im Vergleich zu wirklich künstlerischen Medien notwendigerweise fehlte: die Faktur als „optisch wahrnehmbare Spannung zwischen Bildstoff und Bild“. Zur Kompensation dieses Mankos muss die zwischen Porträtiertem und Rezipient eingezogene Ebene fokussiert, die vermeintliche Transparenz des Mediums gebrochen werden. Irgendwie muss an der fotografisch glatten Oberfläche zur Veranschaulichung derselben gekratzt werden. Ganz wörtlich funktioniert das fürs erste am plausibelsten. Lipuš nimmt sich seine Negative vor, zerschneidet sie, fügt ihnen kratzend Wunden zu, bringt den auf edlem Barytpapier großformatig ausbelichteten Abzügen solcherart aber auch Symbolik bei, arbeitet in sie Grafismen ein: konstruktiv in Weiterzeichnung oder Ergänzung der verschobenen Konturen die einen, wie Verschleißerscheinungen die anderen. Den Bildsujets angemessen, zeitigt dieser letztlich literarische Vorgang durchaus poetische Resultate, denn die zur Schau gestellte Verletzlichkeit der Oberfläche fällt auf die Abgebildeten zurück, lässt mitunter tiefer blicken. Der einstmals tote Spiegel der Natur scheint damit jedenfalls zerbrochen.

Via Handwerk soll aus Foto-Handwerk Foto-Kunstwerk werden. Über Risiken und Nebenwirkungen informiert Sie die Kunstgeschichte.

SCRATCHING AT THE SURFACE
Ulrich Tragatschnig

Marko Lipuš demonstrates how he furnishes photographic portraits of authors with increasing artistic value.

“I think photo art should be concerned exclusively with the aesthetics. The visual is the origin of the picture. The visual part alone is to express, move, respond, to please or also not too. The work of the artist must speak; be able to speak. It must stand for itself – without explanation, without enclosing an instruction manual of the creator.”

Who is stating these words is not a pictorialist at the turn of the 20th century, but the young photographer and photo artist Marko Lipuš in his manifesto on artistic photography. 100 years ago everything still was focused around the question of integration of photography into the art system; to release her from the duties that painting brought up and to establish photography as independent artistic medium (which should finally succeed only much later, in the suction of conceptual beginnings). Lipuš is concerned to turn back and to select from the start. Because in his eyes meanwhile not everything that pretends to be photo art, really is such. Thus he separates strictly between photo handicraft and photo work of art.

The author portraits from the series of scratches re-photographs follow a direct, but nevertheless rational relation to the observer in a first rather conventional representation logic comparable to the book cover. In order to make art from them, Lipuš follows an old prescription. In 1927 the art historian Ernst Kallai (1890-1954) pointed out, what was necessarily missing to photography at its time compared with really artistic media: the facture as “optically perceptible tension between visual material and picture”. To compensate this deficiency, the level drawn in between portrayed and recipient must be focused and the alleged transparency of the medium must be broken. Somehow it must be scratched at the photographic smooth surface to show the same one. This can be taken literally. Lipuš plans his negatives, cuts them, adds scratching wounds to them, and in addition brings a kind of symbolism to the large sized exposures on noble barite paper. He adds on graphics: constructively in continuity or additionally on shifted contours, others like abrasions. Appropriately, this in the long run literary method produces quite poetic results, because the vulnerability of the surface drops back onto the illustrated and enables a deeper view. The once dead mirror of nature seems anyhow broken thereby.

Via handicraft photo work of handicraft is to become a photo art. About risks and side effects history of art will inform you.


FOTOGRAFIE KANN MEHR!
Barbara Crimella

Marko Lipuš und seine Herangehensweise an die künstlerische Fotografie

Jemand erwähnte einmal, dass Fotografie die Seele des Abgebildeten stehlen würde, nach der Betrachtung von Marko Lipuš Fotografien bin ich aber gezwungen diese Aussage zu hinterfragen. Seine portraitierten Personen in der Serie “31 Kratzungen” (Verfotografierungen) umfassen ausschließlich Autoren, die alle in ihren rätselhaften, leisen Gesichtern, mit einer poetischen Qualität aufgeladen sind. Ihr stilles Starren stellt dem Anschein nach einen Dialog mit dem Beobachter her. Der Künstler “zertrümmert” seine Bilder, um eine versteckte Persönlichkeit jedes Einzelnen zu unterstreichen. Folglich ist die Idee von den Kratzungen eine kritische Analyse der Eigenschaft immanenter Formen sowie deren Gesichtspunkte (Foto) und Zeichen (Text) zu verändern, ein Vermischen von Zeichen und Bild zu ermöglichen, wo eine Form das Merkmal der anderen annimmt.

Die Seite eines Buches wird dem Portrait des jeweiligen Autors fotografisch gegenübergestellt. Die Textseiten drücken eine repräsentative Meinung der Poesie der portraitierten AutorInnen aus. Der Text verursacht einen unmittelbaren Kontakt mit dem künstlerischen Ausdruck des Verfassers. Die Seiten des Buches sind vom Kontext des gesamten Romans extrahiert und stellen somit ein typisches Merkmal der Fotografie dar – die Aufnahme eines Moments.

Die fotografischen Portraits charakterisieren nicht nur die Portraitierten, sondern auch deren literarische Arbeiten. Durch den langen Arbeitsprozess (Kratzungen), wird die Bedeutung eines Fotos, das weit über die eines „Snap-shots“ hinausgeht, verstärkt. Diesem scharfsinnigen Prozess folgt eine genaue Beschreibung, eine Skizze und eine Interpretation. Die Fotografien nehmen somit eine “literarische” Eigenschaft an. Texte und die geschilderten Themen werden innerhalb des Portraits aufgezeigt, sozusagen auf eine experimentelle Weise (“Kratzungen”) in die fotografischen Portraits eingearbeitet. Das Gemeinsame ist, dass alle Arbeiten in der Malerei verwurzelt sind, da imaginierte Figuren und Texte “fotografisch abgeändert“ werden. Die Bilder, die der Leser bereits im Text imaginiert hat werden fotografisch sichtbar erweitert. Dem Leser/Betrachter wird folglich ein weiterer Schlüssel zur Interpretation angeboten.

Jedes Bild wird von einem Negativ auf Fotopapier (Baryth) ausbelichtet. Die “Collage” wird auf einem Negativ hergestellt und kann folglich reproduziert werden. Ein Faktum das mit traditionellen Collagen nie möglich gewesen war. Diese fotografische Eigenschaft – die Reproduzierbarkeit – stellt ein wesentliches fotografisches Merkmal dar. Ein anderer wichtiger Aspekt ist die Möglichkeit den Text im Portrait durch Symbole zu deuten, daraus resultiert auch eine Beibehaltung einer mehrfachen Deutungsmöglichkeit. Im Portrait (Original 150 x 110 cm) finden wir “explorative” Bilder, die zum Text und zur Arbeit des Portraitierten hinleiten.

PHOTOGRAPHY CAN DO MORE!
Barbara Crimella

Marko Lipuš and his approach to art photography

Someone once remarked to me that photographs steal the soul, but observing the photos by Marko Lipuš I am bound to dispute that statement. His subjects, including writers, have enigmatic and silent faces charged with an intrinsic poetic quality; their apparently still gazes appear to establish a dialogue with the observer. The artist-photographer “smashes” his images as if to underline a hidden personality within each subject. Hence the idea of Kratzungen, i.e. of critically analyzing the characteristics of immanent forms, to change the point of view (photo) and signs (text), to enable a merging of signs and images, where a form takes on the traits of other forms. The page of a book written by an author whose work has already been published is compared to the person (author) portrayed photographically.

The pages of texts express a representative view in the poetics of the author portrayed. The text creates a brief and “instantaneous” contact with the writer’s artistic output. The pages of the book, extracted from the context of the entire novel, offer a snap shot (a characteristic inherent to photography).

Going on to define how photographic images can characterise both the subject in the portrait and his or her literary works. Through a long, complex process (Kratzungen/Scratches), the meaning of a photo which goes far beyond a snapshot is reinforced. This ingenious process succeeds in providing an accurate description, sketch and interpretation, thus assuming a “literary” characteristic. Texts and passages by the subjects portrayed are displayed within the portrait and are transposed from a content, thematic, interpretative or literal point of view in an experimental manner (“Scratches”) in a photographic-visual portrait. The fil rouge is that the works are all rooted in painting, since imaginary figures and text are “photographically altered”. The images which the reader has already created are extended to the visual representation. The reader/observer is thus offered another key for interpretation.

Every print is taken from a negative, from where it is then placed on photo paper (silver gelatine). This “collage” is created on a negative and can therefore be reproduced, something that has never been possible with traditional collages. This photographic characteristic of reproducibility is an essential requisite, fulfilling an important photographic characteristic. Another important aspect for me is the possibility to interpret the text in the portrait through symbols. As a result of this, I can maintain the relative textual characteristics, that is to say the multiple possibilities of interpretation. In the portrait (original 150 x 110 cm) there are what we might term explorative images that allude to the texts/works of art of the subject portrayed and through these they interpret the latter.


PORTRAITS UND IHRE GESCHICHTEN
Boris Gorupič

Unter allen an unser Land grenzenden Landschaften hat das österreichische Kärnten eine ganz besondere Bedeutung. Diese hat eine geschichtliche Natur, weshalb sich in dieser unserer Nachbarschaft über die Jahrhunderte Bedingungen entwickelt haben, welche die Entwicklung von einigen Besonderheiten bedingt haben. Es handelt sich um einen sehr traditionellen Ausgangspunkt, welcher nicht immer solche Eigenschaften mit einschließt, welche man in dem europäisch ausgerichteten Wien antreffen kann, als auch nicht diese Offenheit, die wir auf dieser Seite der Grenze zu entwickeln versuchen. Gerade deshalb sind jene Autoren noch umso interessanter, welchen es gelingt, die durch die allgemeinen Verhältnisse bestimmte Enge zu überwinden und in ihre Werke Zusammenfassungen von uns allen gemeinsamen Komponenten mit einzubeziehen, welche aus breiteren kulturellen, künstlerischen und zivilisatorischen Errungenschaften hervorgehen.

In den fotografischen Serien von Marko Lipuš kann man mehrere unterschiedliche konzeptionelle Vorgehensweisen erkennen, sehr oft auch ausgesprochen unterschiedliche. Wenn man sie untereinander vergleicht, findet man in einigen eine betonte Lyrizität, andere wiederum drücken die Expressivität von Tönen, Kontrasten und Formen aus. Daneben geht er von unterschiedlichen Kategorien aus, welche die Dokumentation von einzelnen Situationen beinhalten, wie auch zum Beispiel vollkommen dirigierte Aufnahmen, insbesondere, wenn es sich um Portraits handelt. Ein solcher Pluralismus ist bei neueren fotografischen Schulen häufig anzutreffen, verfügen die Autoren doch ganz nach Belieben über die reiche bildnerische Tradition, beziehen sie in ihre Arbeiten mit ein und gleichzeitig versuchen sie noch, diesen Werken die Eigenschaft des Individualismus zu geben. Wenn man versucht, die Fotografien von Lipuš stilmäßig einzuordnen, findet man in ihnen die Anwesenheit des Modernismus, insbesondere dessen Richtungen, welche bildliche Werke von einem Standpunkt des Forschers aus behandelt haben. Deshalb ist die Fotografie als solche keine vollkommen bestimmte Einheit, bei der bereits alle Regeln aufgestellt sind und die nicht verändert werden können. Mit seinen technischen Verfahren führt er diese Kapitel des Modernismus fort, welche immer wieder neue Schemen von bildnerischer Organisation gesucht haben, sie durch Untersuchung versucht haben zu verändern und neue innovative Vorgehensweisen auszubilden. Und gerade in einem solchen System kann man Fortschritt finden.

Die Portraits, die der Autor für die Ausstellung vorbereitet hat, reihen sich unter diese Serien ein, welche unter seinen Werken ganz besonders hervorstechen. Er wendet nämlich eine ausgesprochen unkonventionelle Technik an, obwohl heutzutage in der bildnerischen Produktion soviel Heterogenität zu finden ist, dass man sich fragen kann, ob die Verwendung solcher Ausdrücke überhaupt am Platz ist. Wie auch immer, von standardmäßigen fotografischen Portraits unterscheidet sich seine Serie dadurch, dass sie in ein Feld eintritt, wo sie in Kontakt mit Verfahren kommt, welche man aus der Malerei oder sogar der Grafik kennt. Als Werkgrundlage dient ein klassisches Portrait, welches der Autor mit ihm bekannten Verfahren erweitert und ihm auf diese Weise einen wesentlich veränderten Charakter gibt. Zwar handelt es sich noch immer um ein Portrait, welches die wichtigsten Merkmale des Portraitierten enthält, jedoch hat dieses Werk noch zahlreiche Bedeutungen, die eine eigene Narrativität besitzen und sich zur Gänze auf der fotografischen Oberfläche übereinander schichten. Wenn man das Gefühl hat, dass diese Zusätze in der Form von unterschiedlichen Schichten, Linien und abstrakten Komponenten schwer erklärlich sind, so liegt dies daran, dass auch der Bedeutungsaufbau der Fotografien von Lipuš mehrschichtig gestaltet ist. Mit diesem bildnerischen Ausdruck verbildlicht der Autor die Mannigfaltigkeit der von ihm vorgestellten Personen. Seine Portraitierten sind nämlich Intellektuelle, die mit ihrem öffentlichen Wirken die bedeutendsten Akzente dieser Zeit setzen. Es handelt sich um Personen, die auch in diesem einführenden Textes erwähnt sind und für die eine breite Erfassung der Gesellschaft in ihren heiteren, aber auch wesentlich weniger angenehmen Nuancen kennzeichnend ist. Und hiervon berichten uns die Fotografien.

PORTRAITS AND THEIR STORIES
Boris Gorupič

Along all the landscapes bordering to our country, the Austrian “Carinthia” has a very special meaning. These special features in our neighbourhood are based on historical nature which developed over the centuries. It concerns a very traditional starting point, which includes not always such characteristics which one can find in a European aligned Vienna, neither the liberalism; we are trying to develop on this side of the border. Especially those authors are even more interesting, which succeed to overcome the narrowness caused by general conditions and include cultural, artistic and civilization achievements, summaries of common components of all of us into their works.

In the photographic series of Marko Lipuš one can recognize several different conceptual proceedings that are very often expressed differently. If one compares them among each other, one finds some of stressed lyrically content, others again express tunes, contrasts and forms. Besides he proceeds from different categories which contain the documentation of individual situations; for instance perfect directed photographs, in particular if they are portraits. Such pluralism is frequently encountered with recent photographic schools. The author inherits the rich visual tradition; includes this knowledge into the work and at the same time tries to give the work an individual character. If one tries to categorize the style of Lipuš photographs, one finds within them the presence of modernism, in particular its´ directions, which regarded figurative works from the point of view of a researcher. Therefore the photography as such is not a perfectly determined unit, which has all rules set up already and which cannot be changed. With his technique he continues these chapters of modernism, which have looked over and over again for a change in the scheme of visual organization by investigating and developing new innovative proceedings. Especially in such a system one can find progress.

The Portraits incorporate into the series are particularly outstanding along his oeuvre. He uses a very unconventional technique, although so much heterogeneity is to be found in nowadays in visual production that one can ask oneself, whether the use of such expression stands at all in place. However his photographic portraits differ by the fact that his works enter a field where they come into contact with procedures, which one knows from painting or even from graphics. A classical portrait serves as the working basis which is proceeded by the artist techniques, substantially changed and this way receives a new character. It still remains a portrait, containing the most important characteristics of the portrayed, but however now this work inherits still numerous other meanings which possess their own narration completely on the photographic surface, layered one above the other. If one has the feeling that these additives in the form of different layers, lines and abstract components are understood with difficulty, it can be explained by the fact that the structure meaning of Lipuš photographs is arranged in multiple ways. With this visual expression the artist underlines the diversity of the persons presented by him. The portrayed are intellectuals who set important accents with their public work in our recent time. It concerns persons who are mentioned also in this opening text passage broadly representing a society in its cheerful, but also in less pleasant nuances. And this is what these photographs tell us about.